IGUMEN NIKON (WOROBJOW)
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Warum schreibst du solche verzweifelten Briefe? Meinst du etwa, dass nur du es bist, die Schwierigkeiten schultern muss? Es geht gar nicht um äußere Erschwernisse. Ich denke, dass du das selbst gut begreifst. Es geht eher um deine eigene seelische Zerrüttung. Wohin du auch gehen würdest, kannst du doch vor dir selbst und auch vor dem Feind nicht davon laufen. Alles, was dich ausmacht, wird mit dir sein und dich quälen, auch an einem neuen Ort. Dort vielleicht noch stärker als hier. Du solltest nicht vergessen, dass es ein geistliches Gesetz gibt, das folgendermaßen lautet: „Durch viele Leiden gehen wir in das Gottesreich ein“ (Acta 14,22). „Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach“ (Mt. 16,24). „Das Reich Gottes erklimmt man mit Kraft“ (Mt. 11,12). „Fasset eure Seelen mit Geduld“ (Lk. 21,19). „Wer bis zum Ende aushält, der wird gerettet werden“ (Mt. 24,13). „Ihr werdet in der Welt Angst haben“ (Joh. 16,33). „Die Welt wird euch hassen“ (Joh. 15,18), wenn ihr dem Herrn dienen wollt. Stärke deine Seele durch die Versuchung hindurch. usw.
Die Heiligen Väter formulieren diesen Gedanken in einer kurzen und prägnanten Formel: „Opfere Blut und empfange Geist“. Dies ist das allgemeine Gesetz für alle, die sich um ihr Heil mühen. Wenn man dafür nach Beispielen sucht, die dieses Gesetz bestätigen können, dann findet man sie in jeder Heiligenvita. Als Beispiel sei hier auf den Herrn Jesus Christus, die Apostel, die Märtyrer und Bekenner, sowie die Asketen verwiesen. Diese Prototypen sind prägnant und allen bekannt. In einer abgeschwächten Stufe zeigt sich aber, dass alle, die sich um Christi willen um ein Leben in Frömmigkeit bemüht haben, verfolgt und beleidigt worden sind sowie Krankheiten oder andere äußere und innere Leiden ertragen haben.
Außerdem solltest du die Prophezeiung der alten Kirchenväter kennen, dass in den letzten Tagen vor dem Weltenende die Christen, die einen monastischen Weg gewählt haben, nicht durch asketische Heldentaten ihr Heil erlangen, sondern durch ihre Geduld beim Ertragen von Schmerzen. Dies ist in einem solchen Maße wahr, dass als eindeutiges Zeichen dafür, dass Gott einen Menschen erwählt hat und liebt, die Vielzahl der auf diesen Menschen einstürzenden Leiden und Krankheiten dienen kann. So auch umgekehrt: Wenn sich ein Mensch für einen gläubigen Christ hält, jedoch keine Leiden und Krankheiten kennt, dann ist dies nach Meinung der Heiligen Väter ein Anzeichen dafür, dass der Herr diesem Menschen nicht wohlgesonnen ist.
Nun denke über das Gesagte in Hinblick auf dich selbst nach. Der Herr möchte, dass du das Heil erlangst. Er liebt dich und sendet dir die dafür notwendigen Mittel: Leiden. Und was tust du? Du begreifst es nicht und betrachtest diese Leiden für dich als überflüssig. Ja, du meinst sogar, dass sie dich ins Verderben stürzen. Sie sind in der Tat zerstörerisch, jedoch nicht für die Seele. Sie zermalmen vielmehr deine sündige und gefallene Natur. Sie lassen den alten Menschen (Eph. 4,22) in dir zugrunde gehen, doch erweisen sich als heilsbringend für den neuen Menschen (Eph. 4,24) in dir. Der Feind weiß dies und bringt dich in Verwirrung. Er flößt dir fälschliche Ideen ein, Ungeduld und Verzweiflung. Er lässt dich über andere Menschen richten und über Lebensstile und deine Vorgesetzten urteilen. Du solltest dies verstehen und als Erfahrung in dir verinnerlichen, um so dem Teufel entgegentreten zu können. Nach dem Wort Gottes sind Leiden und Schmerzen im irdischen Leben eines Christen nicht etwas Böses, sondern eine Gabe Gottes: „Euch ist gegeben (eine Gabe gegeben - so heißt es im griechischen Text), um Christi willen zu tun, dass ihr nicht allein an ihn glaubt, sondern auch um seinetwillen leidet“ (Phil. 1,29).
Die für das Heil eines Menschen notwendigen Leiden kann der Mensch in Abhängigkeit von seiner Kondition einmal schwerer oder auch leichter empfinden. Wenn ein Mensch dem Wort Gottes Glauben schenkt, also auch die Leiden für sein Heil als notwendig und unabwendbar begreift, weil er sich seiner unzähligen Sünden, sei es in Wort, Tat oder Gedanken bewusst ist und von daher nicht nur seine ihm gesandten Leiden als zu Recht und verdient ansieht, sondern auch viel größere, dann werden ihm seine Leiden erträglicher. Sie werden ihm erträglicher, weil er nämlich auf diese Weise vor Gott und den Menschen zur Demut gelangt. Später dann erwächst im Menschen das heran, was wertvoller ist als die gesamte Welt mit all ihren irdischen Freuden. Wie hat es der Apostel Paulus ausgedrückt? „Was das Auge nicht gesehen, das Ohr nicht vernommen hat und das Herz eines Menschen nicht erfassen kann, das hat der Herr denen bereitet, die ihn lieben“ (1. Kor. 2,9).
Wenn ein Mensch aber gegen seine Leiden und Krankheiten aufbegehrt und für diese einen Schuldigen unter den Menschen, den Dämonen und den Umständen sucht, wenn er mit allen Mitteln versucht, ihnen zu entgehen, dann wird der Feind ihm dabei helfen und ihm überall angebliche Schuldige zeigen (Vorgesetzte, Umstände, Nachbarn usw.). Dann erweckt er in ihm diesen gegenüber Feindschaft und Hass und den Wunsch Rache zu nehmen, sie zu kränken usw. Auf diesem Wege gleitet die Seele dieses Menschen hinab in Finsternis, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Er verspürt den Wunsch, an einen anderen Ort zu gehen oder von der Erde bedeckt zu werden, um diese angeblichen Feinde nicht mehr sehen und hören zu müssen. Und in der Tat endet ein solcher Mensch, der auf seinen wirklichen Todfeind, den Teufel, hört, der ihm all dies Böse einflößt, um ihn ins Verderben zu führen, manchmal mit einem Selbstmord, also im endgültigen Ruin.
Wenn du in deiner Seele Frieden, Freude und das wahre Heil finden möchtest, dann übe dich unter der starken Hand Gottes in Demut, denn er wird dich aufrichten. Das bedeutet: Nimm alles, was dir widerfährt, wie aus der Hand Gottes gesandt an (nicht aber von Menschen, Dämonen, Umständen usw.). Denn in der Tat geschieht nichts, was mit uns passiert, ohne den Willen Gottes. Menschen und Umstände sind nur Instrumente Gottes, die selbst oft nicht verstehen, was sie tun.
Der Herr Jesus Christus hat allen verkündet, dass Ihm seine bevorstehenden Qualen am Kreuz nicht von den Menschen auferlegt worden sind. Die Pharisäer und Schriftgelehrten, Pilatus und Judas, sie alle waren nur Instrumente. „Soll ich den Kelch, den mir der Vater gegeben hat, nicht trinken?“ (Joh. 18,11). Nicht die Menschen haben Jesus Christus den Kelch der Leiden gegeben, sondern sein Himmlischer Vater, damit die gefallene Menschheit erlöst würde. Auch uns allen, die wir das Heil erlangen wollen, gibt der Herr einen solchen Leidenskelch. Dies tun nicht die Menschen. Warum sollten wir, wenn der Herr für uns gelitten hat, nicht auch selbst für unsere unzähligen Sünden leiden, die wir dazu noch nicht einmal sehen? Wir sollten deshalb den Herrn bitten: „Lass mich meine Sünden erkennen“.
Wenn wir diese Gabe – unsere Sünden zu sehen – empfangen, dann fühlen wir ihre schwere Last und begreifen, wie unmöglich es ist, dass Gott einen Menschen in Sünden zu sich nimmt. Dann werden wird fühlen, wie nötig wir es haben, dass der Herrn uns unsere Sünden vergibt und unsere befleckte Seele durch die Kraft Gottes reinigt. Dann fallen wir dem Herrn vor die Füße und brechen wie die Sünderin in Tränen aus. Dann werden wir von ganzer Seele zu ihm rufen: „Gott, sei mir Sünder gnädig. Herr, tue mit mir, was du möchtest, sende mit jegliches Leid, nur vergib mir meine Sünden und reinige meine Seele vom Aussatz! Lass mich nicht deines himmlischen Reiches verlustig gehen und übergib mich nicht in die Hände meiner Feinde, den Dämonen“.
Übe dich vor Gott in Demut. Wende dich an ihn von ganzem Herzen wie der einsichtige Räuber: „Ich empfange, was ich meinen Taten gemäß verdient habe, gedenke meiner in deinem Reiche“. Tu nicht, was der andere Räuber getan hat, der sich gegen alle aufgebäumt, die anderen gescholten und für seine Leiden verantwortlich gemacht hat. Denn er hat damit seinen Zustand nur verschlimmert und ist elendig umgekommen. Der einsichtige Räuber hingegen hat seine Schuld eingesehen. Er hat zur Demut gefunden, sich in seinen Leiden an den Herrn gewandt und so Trost empfangen. Erleichternd war für ihn die Freude, bald schon von seinen Leiden erlöst und der ewigen Seligkeit im Paradies teilhaftig zu werden: „Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein“.
Der Herr hat alles für unser Heil getan und er wünscht sich für jeden Sünder dessen Erlösung. Deshalb sollten auch wir uns um unser eigenes Heil bemühen und uns dazu anzuhalten, so zu leben, d.h. so zu handeln, zu denken und zu fühlen, wie es der Herr Jesus Christus getan und es uns im Evangelium gelehrt hat. Wenn auch du dich darum bemühst, ein treuer Schüler des Heilandes zu sein, und nach den Geboten des Evangeliums lebst, wenn du deine gewollten und ungewollten Übertretungen dieser im Herzen beweinst und büßt und du dich bemühst, mit deinen Mitmenschen in Frieden zu leben, wenn du dich vor ihnen in Demut übst und für alles um Verzeihung bittest, dann wirst du bald in dir die Barmherzigkeit Gottes zu spüren bekommen, dann wirst du alle deine Leiden vergessen oder sie leichter ertragen können, dann wirst du Gott zu danken beginnen, für das Los, welches er für dich ausgesucht hat. „Lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und demütig im Herzen, so werdet ihr Ruhe in euren Seelen finden“ (Mt. 11,29).
So wirst auch du Ruhe und Freude finden. Nicht weil du an einen anderen Ort gegangen bist, sondern allein dank der Gebote Gottes: dem Gebot Frieden zu halten und Demut zu üben, dem Gebot, niemanden zu verurteilen, Buße zu tun und zu beten. Wahrscheinlich betest du wenig oder nicht gerne. Lerne, im Gebet Trost beim Herrn zu suchen und „du wirst nicht leer ausgehen“.